"Fast alle Menschen, die überlieferte religiöse Rituale befolgen, sind Spaziergänger, die ein Bergsteigerbuch in der Tasche haben. Sie wollen mit Sandalen und einem Apfel in der Hand eine Gletscherwand hinauf. Deshalb wirken religiöse Menschen heute oft so naiv, wenn nicht sogar lächerlich.
Die meisten von ihnen verwechseln zudem Ursache und Wirkung. Sie beobachten etwa, dass Mystiker keinen Sex brauchen. Daraus schließen sie, dass sexuelle Enthaltsamkeit Teil der Wegbeschreibung sei. Sie verweigern ihrem Körper diese Erfüllung und behaupten gar, Sex sei etwas Schlechtes. Das ist natürlich absurd. Manche Mystiker saßen, nachdem sie die Wand überwunden hatten, für den Rest ihres Lebens nur noch in einer Höhle, aßen kaum noch etwas und lachten viel. Entsprechend finden Sie heute im Himalaya jede Menge Verrückte, die glauben, sie könnten Erleuchtung finden, indem sie in einer Höhle herumsitzen und den ganzen Tag lachen. Es wimmelt in Indien von solchen Dummköpfen. Natürlich nicht nur in Indien.
Alle Religionen sind Wegbeschreibungen, die einmal für einen einzigen abentuerlichen Menschen funktioniert haben. Nur selten kommen Nachfolgende auch damit zurecht. Die meisten verirren sich hoffnungslos oder stürzen irgendwo ab. Daher das Heer der Bergführer: Päpste, Rabbiner, Imame, die von diesen Verirrten leben. Dabei kennen die meisten den Weg selbst nicht."
Wolfram Fleischhauer: Schule der Lügen, S. 373