ich
"Was
hatte ich denn eigentlich verloren? Ich kratzte mich nachdenklich
am Kopf. Ich hatte, in der Tat, vieles verloren. Wenn ich alles
haarklein aufschriebe, könnte ich wahrscheinlich einen ganzen
Notizblock füllen. Ich hatte Dinge verloren, denen ich keine
große Bedeutung beigemessen und deren Verlust mich erst
später geschmerzt hatte - und umgekehrt. Ich hatte Dinge
verloren, Menschen und Gefühle. Die Tasche des Mantels, der
mein Leben war, hatte ein fatales Loch, das sich mit keiner Nadel
und keinem Faden stopfen ließ. Gesetzt den Fall, jemand
steckte den Kopf bei mir zum Fenster herein und schrie: "Dein
Leben ist NULL!" - was könnte ich ihm schon entgegnen?
Nichts absolut nichts.
Und doch,
wollte mir scheinen, würde ich mein Leben, hätte ich
es noch einmal zu führen, wieder auf dieselbe Weise leben.
Denn dieses verlustreiche Leben war ich. Für mich
gab es keinen anderen Weg, als ich selbst zu werden. Wie sehr
ich die Leute oder die Leute mich missachteten, welch schöne
Gefühle, überragende Qualitäten und Träume
auch zerrinnen mochten, ich würde doch nie etwas anderes
werden können als ich selbst.
Früher,
als ich jünger war, hatte ich gedacht, vielleicht etwas anderes
als ich selbst werden zu können. Hatte sogar gedacht, dass
es keineswegs unmöglich wäre, in Casablanca eine Bar
aufzumachen und Ingrid Bergmann kennen zu lernen. Oder realistischer
- ob tatsächlich realistischer, sei dahingestellt - dass
es möglich sein müsste, ein meinem ureigenen Ich angemesseneres,
nützlicheres Leben zu führen. Auf dieses Ziel hin trainierte
ich sogar, übte die Selbstrevolution. Ich las Die grüne
Revolution und schaute mir dreimal Easy Rider an.
Und doch kam ich , wie ein Boot mit verkantetem Ruder, immer wieder
an dieselbe Stelle zurück. Zu meinem Ich. Mein Ich ging nirgendwohin.
Es blieb, wo es war und wartete, dass ich zurückkäme.
Wie nennt
man das? Verzweiflung?
Ich weiß
es nicht. Vielleicht. Turgenjew würde es wahrscheinlich Desillusionierung
nennen. Dostojewski würde es als Hölle bezeichnen. Und
Somerset Maugham als Realität. Doch wer immer welchen Namen
dafür findet, es ist mein Ich."
Haruki
Murakami: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt, S. 425