Jetzt überdachte
sie das noch einmal. ... Hatte Buddha Recht? Oder war sein Heilmittel
etwa schlimmer als die Krankheit? Am nächsten Morgen bei
Tagesanbruch verfiel sie in noch größere Zweifel, als
sie eine kleine Gruppe jainistischer Frauen auf ihrem Weg ins
Badehaus beobachtete. Die Jainistinnen erfüllten das Gebot,
nicht zu töten, in absurdem Maße: Sie humpelten schmerzlich
langsam und wie im Krebsgang den Pfad entlang, weil sie den Kies
zunächst sacht abfegen mussten, damit sie nicht auf ein Insekt
traten - eigentlich konnten sie wegen ihrer Gazemasken, die das
Einatmen winzigen tierischen Lebens verhinderten, kaum atmen.
Wohin sie
auch blickte, sah sie Verzicht, Opfer, Einschränkungen und
Ergebenheit.
Was wurde aus dem Leben? Aus Freude, Entwicklung, Leidenschaft,
carpe diem?
War das Leben so qualvol,
dass es dem Gleichmut geopfert werden musste? Vielleicht waren
die vier heiligen Wahrheiten kulturgebunden? Vielleicht waren
es Wahrheiten für eine Zeit vor zweitausendfünfhundert
Jahren in einem Land mit überwältigender Armut, Überbevölkerung,
Hungersnöten, Krankheit, Unterdrückung der unteren Klassen
und einem Mangel an Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch waren
es Wahrheiten, die heute für sie galten?
Hatte Marx nicht recht gehabt? Richteten sich nicht alle Religionen,
die auf Erlösung oder einem besseren Leben im Jenseits basierten,
an die Armen, die Leidenden, die Versklavten? ..."
Irvin
D. Yalom: Die Schopenhauer-Kur, S.194 f