niemand
weiß, was ein mensch ist.
"Niemand
wusste genau, was ein Mensch ist.
Die Folterknechte
des Mittelalters, geschickt, hartnäckig, sorgfältig,
waren an diesem Rätsel gescheitert. Die Kliniker des achtzehnten
Jahrhunderts, mit ihren Duschen, Wechselbädern, listig versteckten
Fallen und Hindernissen auf dem Weg der Wandernden, das neunzehnte
Jahrhundert mit seinen Zwangsjacken, Meister Freud mit seinen
schlau ausgedachten Übertragungen und Ritualen, sie alle
hatten ein Schlupfloch übrig gelassen.
Hinter dem
Menschen war ein Dunkel, und beharrlich sandte es Signale aus,
unvereinbar mit allem, was von ihm erwartet wurde.
Die modernen
Staaten versahen ihn mit einer Personenkennziffer, speicherten
ihn in Datenbanken, organisierten ihn in Arbeitsbrigaden oder
begeisterten ihn in Massenversammlungen, industrialisierten mit
seiner Hilfe arktische Bergwerke, unter Berufung auf seine angeblichen
trotzkistischen Abweichungen, machten ihn zu verkrüppelten
Zwergen in tropischen Hungergebieten oder zu lallenden Alkoholikern
in U-Bahn-Stationen mit der feuchten Kälte der Unterwelt
und der schweren Last der Felsmassen.
Die Physiologen
bohrten ihre Silberdrähte in sein Gehirn und beobachteten,
wie es auf mikroskopisch kleine, ganz genau dosierte elektrische
Ströme reagierte, sie ließen den Orgasmus sich als
elektronischen Sturm auf dem Oszillographen abzeichnen, nicht
unähnlich einem epileptischen Anfall.
Und all das
unter der merkwürdigen Voraussetzung, man wisse tatsächlich,
was ein Mensch eigentlich sei.
Dabei strömten unablässig von überall her Botschaften
herein, die zeigten, dass man sich irrte.
Immerzu widerlegte der Mensch den idiotischen Glauben des Menschen,
dass er seine eigene Tiefe kenne.
...
Niemand weiß,
was ein Mensch ist.
Denn niemand hat je einen Menschen von außen gesehen."
Lars Gustafsson:
Erzählungen von glücklichen Menschen,
Die Kunst, den November zu überstehen,
S. 51 ff