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1. juni 2006

warum gomera?

meine antwort auf diese frage findet sich in einem beitrag für die juni-ausgabe des magazins teneriffa genießen, das diesmal den blick auf uns, die kleine nachbarinsel, wirft. und hier.

Wenn im tiefsten Winter ein kalter Sturm über die Insel braust und ich mich gerade über den neuen Radiator freue, der das Häuschen kuschelig aufwärmt und mir erlaubt, das Spektakel draußen romantisch-verklärt zu genießen – dann ist das genau der Zeitpunkt, an dem die Stromversorgung im ganzen Tal ausfällt. Wenn ich auf einen wichtigen Anruf von einem Kunden in Deutschland warte – gerade dann schwächelt das Telefonnetz und ich bin stunden- oder sogar tagelang nicht erreichbar. Wenn meine Waschmaschine ihren Geist aufgibt, dann ist das dringend benötigte Ersatzteil – ein winziges Plastikrädchen - auf der ganzen Insel nicht zu bekommen. Das Wort 'dringend’ kommt im gomerischen Wortschatz ohnehin nicht vor – und besonders nicht bei Elektrikern oder Automechanikern.
 
Jeder also, der klug genug ist, die Errungenschaften der westlichen Zivilisation in Anspruch nehmen zu wollen - dauernde Verfügbarkeit und sichere Versorgung – macht sinnvollerweise einen Bogen um die Insel. Wer sich dagegen – wie ich – hier dennoch dauerhaft niederlässt, muss also schon besondere Gründe vorweisen, die all die täglichen Widrigkeiten aufwiegen.
 
Ich bin Pendler zwischen zwei Welten. Die meiste Zeit des Jahres verbringe ich auf dieser kleinen Insel, reise jedoch regelmäßig nach Deutschland, um dort für einige Tage oder Wochen als Berater, Trainer und Coach tätig zu sein. Doch während ein normaler Pendler eine Stunde zu seinem Arbeitsplatz und dann wieder zurück nach Hause unterwegs ist, brauche ich immer einen ganzen Tag. Ist es das wert? Ja!
 
Jedesmal, wenn mich das Taxi vom Flughafen Teneriffa Süd zum Hafen in Los Cristianos bringt, fühle ich mich, als hätte ich Deutschland noch gar nicht verlassen: Mit halsbrecherischem Tempo jagt der Taxifahrer den dicken Wagen über die vielbefahrene Autobahn, drängelt andere mit der Lichthupe von der Überholspur, kämpft verbissen um jeden Meter, um jeden noch so kleinen Vorteil. Ein Leben im Ausnahmezustand, ein Albtraum - gerade so, als hinge ein Menschenleben oder das Lebensglück davon ab, einige wenige Sekunden zu sparen.
 
Gomera ist anders. Wenn sich auf einer der engen Straßen der Insel zwei Bekannte oder Nachbarn in ihren Autos begegnen, hält man erst mal nebeneinander an. Man kurbelt die Scheibe herunter und hält ein Schwätzchen. Natürlich bildet sich bald hinter jedem der Autos ein kleiner Stau. In Deutschland würde es keine Sekunde dauern, bis der Hintermann mit lautem Hupen deutlich macht, was er von dieser Behinderung hält - Zeit ist schließlich Geld! Auf Gomera ist das anders. Man wartet. Erst nach 30 Sekunden oder 40 Sekunden fragt man mit einem kurzen Hupen dezent an, ob das Gespräch der beiden denn nun wirklich so wichtig ist, dass es genau hier und jetzt stattfinden muss. Wer das nicht gewohnt ist und sich bereits nach wenigen Sekunden Warten beschwert, erntet deftige Flüche und outet sich als ignoranter Tourist.
 
Was brauche ich wirklich? Als ich mir vor einigen Jahren als gestresster TV-Redakteur in Deutschland diese Frage stellte, fand ich überraschende Antworten. Natur war eine, Wärme, Meer, Ruhe …, und schließlich … Überschaubarkeit! Will ich in München, Palma oder Santa Cruz Essen gehen, kann – nein: muss! – ich mich entscheiden für eines von hunderten von Restaurants. Welch ein Aufwand, welch ein Stress! In meinem Tal dagegen gibt gerade mal eine Handvoll guter Restaurants, einige wenige Bars. Welch eine Erleichterung! Und während in den Zentren dieser Welt alleine der Weg zum Restaurant oft länger dauert als das Essen selbst, bin ich gerade mal fünf oder zehn Minuten unterwegs.
 
Gomera ist anders. Während sich im Süden Teneriffas die lauten, sonnenhungrigen Massen drängeln, zieht die Insel seit Jahrzehnten die Anderen an: Romantiker, Sinn-Sucher, Künstler, Aussteiger, schräge Vögel, Individualisten – jeder mit seinen eigenen Vorstellungen von Urlaub oder Leben. Dass jeder Mensch einzigartig ist, jeder seinen individuellen Raum braucht – die Insel versteht das und verzichtet auf organisierte Massenveranstaltungen und Zerstreuungen. Und so sind auch die wenigen Fiestas, Discos, Konzerte reduziert auf den Maßstab der ländlichen Idylle, der wichtigste 'Event’ ist der abendliche Treff zum Sonnenuntergang an der 'Casa Maria’.
 
Morgens auf der Terrasse: Zwischen steil aufragenden Bergen verlieren sich die Palmenhaine und Häuser des Valle Gran Rey. Die Sonne malt starke Kontraste, Vögel zwitschern, von irgendwoher schreit ein Esel, die Orangenblüten duften betörend. Wie heißt es im Lied der Parranderos de Hermigua: „como tu sol, como tu luz, como tu amor“ – „ich esse deine Sonne, dein Licht, deine Liebe“. Wenn Landschaft und Natur Nahrung für die Seele sind, dann ist dieser kleine Fleck am Rande der Welt das Dessert.
 
Ist das nicht sehr eng? Kriegst du nicht irgendwann den Inselkoller?“ fragen mich Freunde und Besucher regelmäßig. Sie fragen zurecht – eine so kleine, zerklüftete und bergige Insel mit gerade mal 25 km Durchmesser bietet trotz Meer nicht eben den weiten Horizont. Die Zahl der möglichen Ausflugsziele und Freizeitaktivitäten ist begrenzt. Daran ändern auch Satelliten-TV und Internet nichts. Wer lange hier lebt - davon bin ich überzeugt - begrenzt seinen Geist.
 
Und es ist gerade diese fehlende permanente Herausforderung und Überforderung, die Gomera zur Isla Magica macht: Sie beruhigt und entspannt ungemein. Die Zeit verlangsamt sich. Nicht zufällig suchen Gomera-Urlauber ganz gezielt diese Begrenztheit, die ihnen so viel mehr ermöglicht als die vermeintliche Fülle zuhause im Norden oder in einem der touristischen Zentren. Viele der vermeintlich wichtigen Fragen, mit denen man sich im Alltag der hochentwickelten Welt so gerne und viel beschäftigt, rücken in den Hintergrund, verlieren nach und nach an Bedeutung. Geld, Karriere, Auto, Versicherungen, Finanzierungen, … ach!
 
Was brauche ich wirklich? Die Antwort lautet für jeden anders, ist aber auch immer die gleiche: Weniger vom Erschöpfendem, mehr vom Nahrhaften. Eine anstrengende Wanderung mit atemberaubenden Ausblicken, ein langer, leerer Nachmittag am Strand, ein Ausflug zu den Delfinen, ein Abend mit Rotwein auf der Terrasse - schon ein kurzer Urlaub auf Gomera genügt vielen Besuchern, um sich an das zu erinnern, was ihnen (eigentlich!) wichtig ist, wie sie ihre Zeit besser, schöner und sinnvoller gestalten können.
 
Sich dieser Erinnerung zu entziehen, fällt schwer. Und so ist auch meine Tätigkeit als Coach auf der Insel ungleich leichter und befriedigender als in Deutschland. Sich weiter entwickeln, wachsen, Begrenzungen überwinden – in der nahrhaften, entspannten Umarmung durch diese Trauminsel wird den Klienten plötzlich vieles möglich, was jahrelang undenkbar war. Aus Problemen werden Lösungswege, aus Verwirrung entstehen Klarheit und neue Ziele. Und so ist die Insel auch mein bester Geschäftspartner.
 
Warum also Gomera? Gomera lacht nicht, es lächelt leise. Ich habe mich in diese Insel verliebt wie in eine Frau. Nicht nur, dass sie wunderschön ist – das sind viele. Sie ist auch die ideale Partnerin - fördert meine Stärken, gleicht nachsichtig meine Schwächen aus, gibt mir Ruhe, unterstützt mich immer wieder mit Freude, Nahrung, Überraschungen. Und so sehe ich gerne über ihre kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten hinweg, entdecke immer wieder das Liebenswerte an ihr: Die kaputte Waschmaschine bringt mich wieder mehr in Kontakt mit meinen hilfsbereiten Nachbarn, der Stromausfall ist Gelegenheit für einen ruhigen Abend mit Decke und bei Kerzenlicht, … „para soñar, para reir, para vivir contigo“ – „um zu träumen, um zu lächeln, um mit dir zu leben“!
 

 
 
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