Wenn
im tiefsten Winter ein kalter Sturm über die Insel braust
und ich mich gerade über den neuen Radiator freue, der
das Häuschen kuschelig aufwärmt und mir erlaubt,
das Spektakel draußen romantisch-verklärt zu genießen
– dann ist das genau der Zeitpunkt, an dem die Stromversorgung
im ganzen Tal ausfällt. Wenn ich auf einen wichtigen
Anruf von einem Kunden in Deutschland warte – gerade
dann schwächelt das Telefonnetz und ich bin stunden-
oder sogar tagelang nicht erreichbar. Wenn meine Waschmaschine
ihren Geist aufgibt, dann ist das dringend benötigte
Ersatzteil – ein winziges Plastikrädchen - auf
der ganzen Insel nicht zu bekommen. Das Wort 'dringend’
kommt im gomerischen Wortschatz ohnehin nicht vor –
und besonders nicht bei Elektrikern oder Automechanikern.
Jeder
also, der klug genug ist, die Errungenschaften der westlichen
Zivilisation in Anspruch nehmen zu wollen - dauernde Verfügbarkeit
und sichere Versorgung – macht sinnvollerweise einen
Bogen um die Insel. Wer sich dagegen – wie ich –
hier dennoch dauerhaft niederlässt, muss also schon besondere
Gründe vorweisen, die all die täglichen Widrigkeiten
aufwiegen.
Ich
bin Pendler zwischen zwei Welten. Die meiste Zeit des Jahres
verbringe ich auf dieser kleinen Insel, reise jedoch regelmäßig
nach Deutschland, um dort für einige Tage oder Wochen
als Berater, Trainer und Coach tätig zu sein. Doch während
ein normaler Pendler eine Stunde zu seinem Arbeitsplatz und
dann wieder zurück nach Hause unterwegs ist, brauche
ich immer einen ganzen Tag. Ist es das wert? Ja!
Jedesmal,
wenn mich das Taxi vom Flughafen Teneriffa Süd zum Hafen
in Los Cristianos bringt, fühle ich mich, als hätte
ich Deutschland noch gar nicht verlassen: Mit halsbrecherischem
Tempo jagt der Taxifahrer den dicken Wagen über die vielbefahrene
Autobahn, drängelt andere mit der Lichthupe von der Überholspur,
kämpft verbissen um jeden Meter, um jeden noch so kleinen
Vorteil. Ein Leben im Ausnahmezustand, ein Albtraum - gerade
so, als hinge ein Menschenleben oder das Lebensglück
davon ab, einige wenige Sekunden zu sparen.
Gomera
ist anders. Wenn sich auf einer der engen Straßen der
Insel zwei Bekannte oder Nachbarn in ihren Autos begegnen,
hält man erst mal nebeneinander an. Man kurbelt die Scheibe
herunter und hält ein Schwätzchen. Natürlich
bildet sich bald hinter jedem der Autos ein kleiner Stau.
In Deutschland würde es keine Sekunde dauern, bis der
Hintermann mit lautem Hupen deutlich macht, was er von dieser
Behinderung hält - Zeit ist schließlich Geld! Auf
Gomera ist das anders. Man wartet. Erst nach 30 Sekunden oder
40 Sekunden fragt man mit einem kurzen Hupen dezent an, ob
das Gespräch der beiden denn nun wirklich so wichtig
ist, dass es genau hier und jetzt stattfinden muss. Wer das
nicht gewohnt ist und sich bereits nach wenigen Sekunden Warten
beschwert, erntet deftige Flüche und outet sich als ignoranter
Tourist.
Was
brauche ich wirklich? Als ich mir vor einigen Jahren als gestresster
TV-Redakteur in Deutschland diese Frage stellte, fand ich
überraschende Antworten. Natur war eine, Wärme,
Meer, Ruhe …, und schließlich … Überschaubarkeit!
Will ich in München, Palma oder Santa Cruz Essen gehen,
kann – nein: muss! – ich mich entscheiden für
eines von hunderten von Restaurants. Welch ein Aufwand, welch
ein Stress! In meinem Tal dagegen gibt gerade mal eine Handvoll
guter Restaurants, einige wenige Bars. Welch eine Erleichterung!
Und während in den Zentren dieser Welt alleine der Weg
zum Restaurant oft länger dauert als das Essen selbst,
bin ich gerade mal fünf oder zehn Minuten unterwegs.
Gomera
ist anders. Während sich im Süden Teneriffas die
lauten, sonnenhungrigen Massen drängeln, zieht die Insel
seit Jahrzehnten die Anderen an: Romantiker, Sinn-Sucher,
Künstler, Aussteiger, schräge Vögel, Individualisten
– jeder mit seinen eigenen Vorstellungen von Urlaub
oder Leben. Dass jeder Mensch einzigartig ist, jeder seinen
individuellen Raum braucht – die Insel versteht das
und verzichtet auf organisierte Massenveranstaltungen und
Zerstreuungen. Und so sind auch die wenigen Fiestas, Discos,
Konzerte reduziert auf den Maßstab der ländlichen
Idylle, der wichtigste 'Event’ ist der abendliche Treff
zum Sonnenuntergang an der 'Casa Maria’.
Morgens
auf der Terrasse: Zwischen steil aufragenden Bergen verlieren
sich die Palmenhaine und Häuser des Valle Gran Rey. Die
Sonne malt starke Kontraste, Vögel zwitschern, von irgendwoher
schreit ein Esel, die Orangenblüten duften betörend.
Wie heißt es im Lied der Parranderos de Hermigua:
„como tu sol, como tu luz, como tu amor“
– „ich esse deine Sonne, dein Licht, deine Liebe“.
Wenn Landschaft und Natur Nahrung für die Seele sind,
dann ist dieser kleine Fleck am Rande der Welt das Dessert.
„Ist
das nicht sehr eng? Kriegst du nicht irgendwann den Inselkoller?“
fragen mich Freunde und Besucher regelmäßig. Sie
fragen zurecht – eine so kleine, zerklüftete und
bergige Insel mit gerade mal 25 km Durchmesser bietet trotz
Meer nicht eben den weiten Horizont. Die Zahl der möglichen
Ausflugsziele und Freizeitaktivitäten ist begrenzt. Daran
ändern auch Satelliten-TV und Internet nichts. Wer lange
hier lebt - davon bin ich überzeugt - begrenzt seinen
Geist.
Und
es ist gerade diese fehlende permanente Herausforderung und
Überforderung, die Gomera zur Isla Magica macht:
Sie beruhigt und entspannt ungemein. Die Zeit verlangsamt
sich. Nicht zufällig suchen Gomera-Urlauber ganz gezielt
diese Begrenztheit, die ihnen so viel mehr ermöglicht
als die vermeintliche Fülle zuhause im Norden oder in
einem der touristischen Zentren. Viele der vermeintlich wichtigen
Fragen, mit denen man sich im Alltag der hochentwickelten
Welt so gerne und viel beschäftigt, rücken in den
Hintergrund, verlieren nach und nach an Bedeutung. Geld, Karriere,
Auto, Versicherungen, Finanzierungen, … ach!
Was
brauche ich wirklich? Die Antwort lautet für jeden anders,
ist aber auch immer die gleiche: Weniger vom Erschöpfendem,
mehr vom Nahrhaften. Eine anstrengende Wanderung mit atemberaubenden
Ausblicken, ein langer, leerer Nachmittag am Strand, ein Ausflug
zu den Delfinen, ein Abend mit Rotwein auf der Terrasse -
schon ein kurzer Urlaub auf Gomera genügt vielen Besuchern,
um sich an das zu erinnern, was ihnen (eigentlich!) wichtig
ist, wie sie ihre Zeit besser, schöner und sinnvoller
gestalten können.
Sich dieser Erinnerung zu entziehen, fällt schwer. Und
so ist auch meine Tätigkeit als Coach auf der Insel ungleich
leichter und befriedigender als in Deutschland. Sich weiter
entwickeln, wachsen, Begrenzungen überwinden –
in der nahrhaften, entspannten Umarmung durch diese Trauminsel
wird den Klienten plötzlich vieles möglich, was
jahrelang undenkbar war. Aus Problemen werden Lösungswege,
aus Verwirrung entstehen Klarheit und neue Ziele. Und so ist
die Insel auch mein bester Geschäftspartner.
Warum
also Gomera? Gomera lacht nicht, es lächelt leise. Ich
habe mich in diese Insel verliebt wie in eine Frau. Nicht
nur, dass sie wunderschön ist – das sind viele.
Sie ist auch die ideale Partnerin - fördert meine Stärken,
gleicht nachsichtig meine Schwächen aus, gibt mir Ruhe,
unterstützt mich immer wieder mit Freude, Nahrung, Überraschungen.
Und so sehe ich gerne über ihre kleinen Schwächen
und Unzulänglichkeiten hinweg, entdecke immer wieder
das Liebenswerte an ihr: Die kaputte Waschmaschine bringt
mich wieder mehr in Kontakt mit meinen hilfsbereiten Nachbarn,
der Stromausfall ist Gelegenheit für einen ruhigen Abend
mit Decke und bei Kerzenlicht, … „para soñar,
para reir, para vivir contigo“ – „um
zu träumen, um zu lächeln, um mit dir zu leben“!