O BÁLSAMO DA DESILUSAO. DER BALSAM
DER ENTTÄUSCHUNG. Enttäuschung gilt als Übel.
Ein unbedachtes Vorurteil. Wodurch, wenn nicht durch Entäuschung,
sollten wir entdecken, was wir erwartet und erhofft haben?
Und worin, wenn nicht in dieser Entdeckung, sollte Selbsterkenntnis
liegen? Wie also sollte einer ohne Enttäuschung Klarheit
über sich selbst gewinnen können?
Wir sollten Enttäuschungen nicht seufzend erleiden als
etwas, ohne das unser Leben besser wäre. Wir sollten
sie aufsuchen, ihnen nachspüren, sie sammeln. Warum bin
ich enttäuscht, dass die angebeteten Schauspieler meiner
Jugend jetzt alle Zeichen des Alters und des Verfalls tragen?
Was lehrt mich die Enttäuschung darüber, wie wenig
Erfolg wert ist? Manch einer braucht ein Leben lang, um sich
die Enttäuschung über seine Eltern einzugestehen.
Was haben wir denn von ihnen eigentlich erwartet? ...
Einer, der wirklich wissen möchte, wer er ist, müsste
ein ruheloser, fanatischer Sammler von Enttäuschungen
sein, und das Aufsuchen enttäuschender Erfahrungen müsste
ihm wie eine Sucht sein, die alles bestimmende Sucht seines
Lebens, denn ihm stünde mit großer Klarheit vor
Augen, dass sie nicht ein zerstörerisches heißes
Gift ist, die Enttäuschung, sondern ein kühler,
beruhigender Balsam, der uns die Augen öffnet über
die wahren Konturen unserer selbst.
Und es dürfte ihm nicht nur um Enttäuschungen gehen,
welche die Anderen oder die Umstände betreffen. Wenn
man Enttäuschung als Leitfaden hin zu sich selbst entdeckt
hat, wird man begierig sein zu erfahren, wie sehr man über
sich selbst enttäuscht ist: über fehlenden Mut und
mangelnde Wahrhaftigkeit etwa, oder über die schrecklich
engen Grenzen, die dem eigenen Fühlen, Tun und Sagen
gezogen sind. Was war es denn, was wir von uns erwartet und
erhofft hatten? Dass wir grenzenlos wären, oder doch
ganz anders, als wir sind?
Es könnte einer die Hoffnung haben, dass er durch das
Vermindern von Erwartungen wirklicher würde, auf einen
harten, verlässlichen Kern schrumpft und damit gefeit
wäre gegen den Schmerz der Enttäuschung. Doch wie
wäre es, ein Leben zu führen, das sich jede ausgreifende,
unbescheidene Erwartung verböte, ein Leben, in dem es
nur noch banale Erwartungen gäbe wie die, dass der Bus
kommt?
S. 262