im zug
am ende einer
langen arbeitswoche … müde in den ice steigen
… mein reservierter platz am tisch … ich verstaue
das gepäck, setze mich … der zug fährt an. wie
immer in solchen situationen schließe ich die augen. es
ist meine form, die anspannung der woche spürbar werden zu
lassen. nun endlich darf die erschöpfung fließen …
tief fallen.… ... die arrogante souveränität ist
wohl in leipzig hängen geblieben ... das unbeschwerte
grinsen hab ich in münchen verloren ... in welchem
hotelzimmer liegt meine gelassenheit? .. in welchem zug meine
frechheit? ... wo in dieser betonwelt ist das fließende
erstarrt? ...
erst als ich minuten später die augen wieder öffne,
nehme ich meine mitreisenden wahr.
mir gegenüber
ein mädchen, vielleicht zwanzig. sehr brav sieht sie aus
in ihrer roten strickjacke, das lange blonde haar zurückgekämmt.
eine tochter. wahrscheinlich studiert sie die woche über
in dieser stadt und fährt nun nach hause zu ihren eltern,
zu ihrem freund. sie drängt sich in die ecke, ihr blick ist
ein wenig unsicher, angestrengt in ein taschenbuch vertieft, dessen
titel ich nicht erkennen kann. als sich unsere blicke treffen,
lächle ich. ganz kurz - fast erschrocken - erwidert sie das
lächeln und wendet sich schnell wieder ab.
der mann
neben ihr ist ende zwanzig, schmächtig. unsicheres schmales
bärtchen, unauffällige brille, grauer pullover mit rautenmuster.
er hat ein bündel von kopien vor sich ausgebreitet, die er
im wackelnden zug bemüht akkurat mit bleistift und gelbem
textmarker bearbeitet.
doch seine
aufmerksamkeit gilt eindeutig seiner nachbarin: immer wieder blickt
er scheinbar an ihr vorbei aus dem fenster und beobachtet sie
aus den augenwinkeln. er legt den bleistift so auf den tisch,
dass er wieder und wieder in ihre richtung rollt. als sie ein
brötchen auspackt, räumt er den fahrplan und dieses
übliche banale bahn-magazin auf seine seite. und erhält
jedesmal ein schnelles minimales lächeln.
trotz meiner
müdigkeit ist mein interesse geweckt: um die beiden nicht
zu stören, ziehe ich meine ohrstöpsel aus der tasche
und lausche keith jarrett. dadurch bin ich weg, nicht
mehr da – und doch wach und erwartungsvoll.
immer wieder
schickt er seine verhaltenen signale aus. es dauert eine halbe
stunde, bis er wagt, sie anzusprechen: schüchtern, mit gesenktem
kopf und fahrigen bewegungen. sie reagiert mit ihrem lächeln
und kurzen antworten, und erst jetzt sehe ich, dass es nur ihr
mund ist, der lächelt. die augen dagegen ziehen sich zurück,
werden starr. ihr gegenüber scheint das nicht wahr zu nehmen.
jetzt dreht er sich ihr sogar zu. sie antwortet jeweils nur knapp,
findet aber offenbar keine form, ihre ablehnung deutlicher auszudrücken.
er redet
weiter, jetzt untermalt mit vielen gesten und intensiver mimik.
sie dagegen lächelt immer seltener, sieht ihn kaum mehr an,
blickt geradeaus ins leere. ihr gesprächspartner wird unruhig.
offenbar versucht er nun, sie mit fragen zu aktivieren. sie reagiert
kaum noch, ist erstarrt.
irgendwann
steht das mädchen auf, sieht ihn entschuldigend an und geht
richtung toilette. und bleibt sehr lange weg. immer wandern die
blicke des mannes suchend den gang entlang. doch erst kurz vor
der ankunft des zuges kommt sie zurück. sie wechseln noch
zwei sätze, dann nimmt sie ihre tasche und strebt dem ausgang
zu.