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22. oktober 2005


im zug

am ende einer langen arbeitswoche … müde in den ice steigen … mein reservierter platz am tisch … ich verstaue das gepäck, setze mich … der zug fährt an. wie immer in solchen situationen schließe ich die augen. es ist meine form, die anspannung der woche spürbar werden zu lassen. nun endlich darf die erschöpfung fließen … tief fallen.… ... die arrogante souveränität ist wohl in leipzig hängen geblieben ... das unbeschwerte grinsen hab ich in münchen verloren ... in welchem hotelzimmer liegt meine gelassenheit? .. in welchem zug meine frechheit? ... wo in dieser betonwelt ist das fließende erstarrt? ...

    

erst als ich minuten später die augen wieder öffne, nehme ich meine mitreisenden wahr.

mir gegenüber ein mädchen, vielleicht zwanzig. sehr brav sieht sie aus in ihrer roten strickjacke, das lange blonde haar zurückgekämmt. eine tochter. wahrscheinlich studiert sie die woche über in dieser stadt und fährt nun nach hause zu ihren eltern, zu ihrem freund. sie drängt sich in die ecke, ihr blick ist ein wenig unsicher, angestrengt in ein taschenbuch vertieft, dessen titel ich nicht erkennen kann. als sich unsere blicke treffen, lächle ich. ganz kurz - fast erschrocken - erwidert sie das lächeln und wendet sich schnell wieder ab.

der mann neben ihr ist ende zwanzig, schmächtig. unsicheres schmales bärtchen, unauffällige brille, grauer pullover mit rautenmuster. er hat ein bündel von kopien vor sich ausgebreitet, die er im wackelnden zug bemüht akkurat mit bleistift und gelbem textmarker bearbeitet.

doch seine aufmerksamkeit gilt eindeutig seiner nachbarin: immer wieder blickt er scheinbar an ihr vorbei aus dem fenster und beobachtet sie aus den augenwinkeln. er legt den bleistift so auf den tisch, dass er wieder und wieder in ihre richtung rollt. als sie ein brötchen auspackt, räumt er den fahrplan und dieses übliche banale bahn-magazin auf seine seite. und erhält jedesmal ein schnelles minimales lächeln.

trotz meiner müdigkeit ist mein interesse geweckt: um die beiden nicht zu stören, ziehe ich meine ohrstöpsel aus der tasche und lausche keith jarrett. dadurch bin ich weg, nicht mehr da – und doch wach und erwartungsvoll.

immer wieder schickt er seine verhaltenen signale aus. es dauert eine halbe stunde, bis er wagt, sie anzusprechen: schüchtern, mit gesenktem kopf und fahrigen bewegungen. sie reagiert mit ihrem lächeln und kurzen antworten, und erst jetzt sehe ich, dass es nur ihr mund ist, der lächelt. die augen dagegen ziehen sich zurück, werden starr. ihr gegenüber scheint das nicht wahr zu nehmen. jetzt dreht er sich ihr sogar zu. sie antwortet jeweils nur knapp, findet aber offenbar keine form, ihre ablehnung deutlicher auszudrücken.

er redet weiter, jetzt untermalt mit vielen gesten und intensiver mimik. sie dagegen lächelt immer seltener, sieht ihn kaum mehr an, blickt geradeaus ins leere. ihr gesprächspartner wird unruhig. offenbar versucht er nun, sie mit fragen zu aktivieren. sie reagiert kaum noch, ist erstarrt.

irgendwann steht das mädchen auf, sieht ihn entschuldigend an und geht richtung toilette. und bleibt sehr lange weg. immer wandern die blicke des mannes suchend den gang entlang. doch erst kurz vor der ankunft des zuges kommt sie zurück. sie wechseln noch zwei sätze, dann nimmt sie ihre tasche und strebt dem ausgang zu.

 

 

 
 
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