jeder
vertut sich mal. aber gleich das leben?
"Nun,
ich hatte es geschafft.
Was eigentlich? Das Leben? Das Sterben? Den Tod? Von zehn Milliarden
Atemzügen gehen neuneinhalb ins Leere; man könnte sie
weglassen, niemandem fiele das auf; Leben will weniger gelebt
als gelernt sein, aber ehe man das begreift, kommen die Nierensteine,
die Herzrhythmusstörungen, die Bandscheibenvorfälle;
die Jugend rennt rückwärts davon, man schafft wenig,
man wird geschafft; die Eigeninitiative war mittelmäßig,
nie ist man zu sich selber gekommen, das Leben ließ einem
keine Zeit, obschon man sich die Zeit zum Leben sehr wohl hätte
nehmen können; aber man hat sich angepasst; ein leben, vollgespickt
mit Ansichten und Absichten, aber blöd vertan, weil man zeitlebens
versäumt hat, sich selber zu leben.
Aussicht: ja; Einsicht: nein.
Warum? Es sollte einem gleichgültig sein, ob auf der Todesanzeige
"Generaldirektor", "Sportler des Jahres" oder
"Ritter vom Heiligen Grab" steht. Aber nein, den Trauernden
will man es nochmal richtig zeigen, ihr Leid ist unsagbar, man
selber unersetzbar, der Tod ist groß, wir sind die Seinen.
Schade. Auch dieses Leben vertan. Man ist nicht bloß gestorben;
man ist verschieden, entschlafen, womöglich sanft dahin-
oder heimgegangen. Schade. Die großen Tode machen schaulustig,
die Orden im Sarg haben ausgeklimpert, sie rosten dahin, das Dekor
war mies, das Leben käuflich, man hat es aus-, nicht angenommen.
Man hat es vertan. Gewiss, jeder vertut sich mal. Aber gleich
das Leben?"
Werner
Koch, Jenseits des Sees