personenschaden
mit der bahn unterwegs in deutschland. ja, ich liebe es: der blick
auf landschaften, die leere zwischen abfahren und ankommen, extra
time zum lesen oder musik hören. oder einfach nur den
gedanken beim spielen zusehen. abends: irgendwo da draußen
im dunkeln ist vielleicht tatsächlich etwas, hinter diesen
vorbeihuschenden fenstern leben vielleicht menschen. ich erfinde
geschichten, träume.
was ich nicht mag: warten in diesen gesichtslosen bahnhöfen
mit ihren standard-shops; yorma's, segafredo,
le cro bag. überall gleich, anonym, standardisiert,
funktional. und vor allem eines: sauber.
nur 5 minuten verspätung verspricht die anzeige zunächst.
sie ändert sich bald auf 10, 15, 30, dann 60 minuten. "über
60 minuten" ist das maximum auf der anzeigetafel der
bahn. mehr gibt sie einfach nicht her, mehr abweichung der realität
vom plan lässt das selbstverständnis dieses überaus
deutschen unternehmens nicht zu ... "doublespeak"
nennt george orwell das.
ich warte also. ich bin müde. ich weiß, dass ich erst
weit nach mitternacht ankommen werde. mir ist kalt.
meine suche nach orientierung führt mich zu der schicken
dame am neudeutschen servicepoint: ein verschwörerischer
blick, die stimme gesenkt: "der hat was mitgenommen -
sie wissen schon: personenschaden!"
routiniert drückt sie mir einen kaffee-gutschein in die hand.
personenschaden - welch ein sauber-neutraler begriff
für eine solche katastrophe. ich werde dieses bild nicht
los: irgendwo da draußen in der nacht steht dieser mensch
an der bahnstrecke im malerischen tal und wartet auf den ICE.
seine gedanken laufen amok. da ist kein denken mehr, da ist nur
noch ein sinnloses, schmerzhaftes rattern von impulse, fetzen,
schmerzen. vielleicht wartet er seit 10 minuten, vielleicht schon
eine stunde. er wartet auf seinen tod. nicht irgendeinen, sondern
einen schrecklichen, aggressiven. sein verzweifelter zerbrechlicher
körper gegen 200 tonnen gefühllosen stahl, der mit 200
stundenkilometern durch die nacht donnert.
er wartet. noch ist der zug weit weg, zu weit, um ihn zu hören
oder gar zu sehen. aber der mann kennt die strecke - schon oft
hat er diesen weißen pfeil beobachtet, wie er durch das
tal pflügt. er kennt den fahrplan, weiß, dass es nicht
mehr lange dauern kann.
sicher waren da schon augenblicke von zweifel, von kopfschütteln
über sein vorhaben. vielleicht hat er sich schon einige male
auf den rückweg gemacht - und ist dann doch zurück gekehrt
zu der stelle neben der schiene, die er sich für seine letzten
minuten in diesem leben ausgesucht hat.
und endlich hört er in der ferne dieses vertraute geräusch,
sieht die starken scheinwerfer durch die bäume...
.
.
.
eine katastrophe,
eine unglaubliche konsequenz - welcher druck, welches leid mag
diesen menschen wohl zu diesem dramatischen letzten schritt bewogen
haben? oder war es vielleicht gar keine kurzschluss-reaktion,
sondern ein wohl durchdachter und nachvollziehbarer schritt?
eines aber ist sicher:
diese entscheidung war das beste, was diesem menschen in diesem
augenblick möglich war.