warum krieg?
- deshalb!
der folgende
text gehört zu dem besten, was ich dazu bislang gelesen habe.
da er im web nicht zu finden ist, kann ich nicht verlinken, sondern
stelle ihn komplett rein.
Warum Corporate
America den Krieg braucht
Von Michael Schneider
Wer schützt
den "Rest der Welt" vor den USA?
Nach der militärischen Doktrin des Pentagons gelten als sog.
"Schurkenstaaten" all jene, die erstens zur "Produktion
von Massenvernichtungsmitteln in der Lage" sind, die zweitens
ein "feindliches Verhalten in den internationalen Beziehungen"
an den Tag legen, d.h. die Regeln des Völkerrechts missachten,
und die drittens "eine Bedrohung für die internationale
Völkergemeinschaft" darstellen.
Dass die
USA nach ihren eigenen Kriterien eigentlich den Spitzenplatz auf
der langen Liste der "Schurkenstaaten" einnehmen müssten,
kommt den Herren des Weißen Hauses und des Pentagons freilich
so wenig in den Sinn wie ihren Verbündeten. Die Vereinigten
Staaten entwickeln Massenvernichtungswaffen und bereiten sich
darauf vor, sie nach Gutdünken einzusetzen. Sie produzieren
und exportieren mehr Waffen als der "Rest der Welt"
zusammen. Sie haben den Vertrag mit Russland zur Begrenzung von
Raketenabwehrsystemen (ABM) und sämtliche internationale
Vereinbarungen über biologische und chemische Waffen, auch
über das Verbot der Produktion und den Einsatz von Landminen,
aufgekündigt. Mit 71 Militärstützpunkten in 22
Ländern der Welt, modernsten Kriegsflotten und Flugzeugträgern
auf allen Weltmeeren und dem Aufbau ihres globalen Antiraketenschirms,
der sich von Alaska bis über den pazifischen Raum erstrecken
wird, sind die USA in der Lage, jeden Staat der Welt anzugreifen,
politisch und militärisch zu erpressen und ihren Interessen
gefügig zu machen. Wer könnte leugnen, dass sie mit
ihrer globalen Militärpräsenz, mit ihren monströsen
Waffen-Arsenalen und Massenvernichtungsmitteln eine viel größere
und dauerhaftere Bedrohung für den Weltfrieden darstellen,
als sie von einer drittklassigen Regionalmacht wie dem Irak jemals
ausgehen könnte!
Wir leben
offensichtlich in einer verkehrten Welt mit doppelten Standards:
Die einzig verbliebene, bis an die Zähne gerüstete Supermacht
verlangt von anderen, ungleich schwächeren Staaten, was sie
bei sich selbst niemals zulassen würde. Darüber hinaus
maßt sie sich das alleinige Definitionsmonopol an, wer den
"Schurkenstaaten" und der "Achse des Bösen"
zuzurechnen ist und wer nicht. Die meisten Länder der Welt,
vor allem die der arabischen Welt und des Südens, haben heute
nicht Angst vor dem Irak oder einem anderen "Schurkenstaat",
sondern vor der Hybris der Weltmacht USA, die - nicht erst seit
dem 11. September - alle politischen Beißhemmungen und völkerrechtlichen
Bindungen abzuwerfen bereit scheint. "Der Irak ist eher bedroht
als bedrohlich," konstatierte Le Monde diplomatique dazu
vor kurzem.
Obwohl es
so offenkundig ist wie in Andersens Märchen, dass "der
Kaiser nackt ist", wagt kein politischer Repräsentant
der mit den USA verbündeten Mächte, auch nicht Deutschlands
Chefdiplomat und populärster Politiker, die schlichte und
schlimme Wahrheit auszusprechen: Dass unsere "amerikanischen
Freunde" das Völkerrecht nur beachten, wo es ihren nationalen
Interessen nützt. Dies aber ist seit geraumer Zeit eher die
Ausnahme von der kruden Regel, US- Interessen in aller Welt mit
Gewalt und geheimdienstlichen Operationen durchzusetzen. Wenn
aber die USA die Vereinten Nationen zur Erzwingungsinstanz ihrer
Politik machen, so heißt das nichts anderes, als dass die
UN für die schmutzige Arbeit einer aggressiven Kriegspolitik
rekrutiert werden.
Die dritte
Exekution
Die Moscheen in Bagdad und anderswo sind in diesen Tagen voll
von Menschen, die darum beten, dass ihrem Land eine weitere militärische
Exekution erspart bleibe. Doch auch Allah wird ihnen nicht helfen
können. Denn die einzig verbliebene Supermacht, die ihren
"Krieg gegen den Terror" ursprünglich ja "infinite
justice" hatte taufen wollen, reklamiert seit geraumer Zeit
die göttliche Allmacht und Gerechtigkeit für sich selbst.
Dabei ist der Irak, ist dieses Volk bereits Opfer einer zweifachen
Exekution geworden: der militärischen "Operation Wüstensturm"
von 1991, bei der - nach Schätzungen des IPPNW, der Internationalen
Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges - zwischen
100 000 bis 120 000 irakische Soldaten und Zivilisten getötet
worden sind. Und es ist Opfer eines zwölfjährigen Handelsembargos
und Sanktionsregimes geworden, das etwa eine Million Irakern,
darunter mehr als 500 000 Kindern, infolge chronischer Unterernährung,
medizinischer Unterversorgung und mangels Zugang zu sauberem Wasser,
das Leben gekostet hat. Das kürzlich erneut verschärfte
Sanktionsregime mit seiner rigorosen Auslegung des "dial
use"-Prinzips erlaubt weder die Einfuhr von Impfstoffen,
Antibiotika, Infusionsnadeln und notwendigen medizinischen Geräten,
noch die von technischen Mitteln zur Reparatur der im Golfkrieg
1991 zerstörten Elektrizitäts-, Wasser- und Klärwerke.
Man muss
nicht erst den Artikel II, Absatz c der Genfer Genozidkonvention
bemühen, ("Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen
für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche
Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen"),
um hier von einem stillen Völkermord zu sprechen, den die
westliche Welt in kalter Gleichgültigkeit einfach geschehen
ließ und noch geschehen lässt. Hans Graf von Sponeck,
der knapp zwei Jahre lang das Programm "Öl für
Lebensmittel" leitete und, (wie schon sein Vorgänger,
der Ire Dani Halliday), im Februar 2000 von seinem Posten zurücktrat,
weil er die Aushungerung und Verelendung der irakischen Zivilbevölkerung
nicht länger mittragen wollte, nennt die Uno-Sanktionen gegen
den Irak eine Völkermordaktion (Interview vom 24.12.02 mit
SPIEGEL- Online).
Im Namen
der "Zwangsabrüstung" des Regimes an dem geschundenen,
dezimierten und gänzlich verarmten irakischen Volk jetzt
eine erneute Militäraktion vollstrecken zu wollen, dies ist
nicht nur ein grenzenloser Zynismus, es wäre auch ein ungeheurer
Akt der Barbarei. Hierbei von "Krieg" zu sprechen, ist
der pure Euphemismus. Mit ihren "smart bombs", die nicht
mehr über Laser, sondern wetterunabhängig über
Satelliten gesteuert werden, können die Amerikaner gefahrlos
aus der Luft operieren, ohne dass sie für die irakische Abwehr
erreichbar sind. Dass US-Flächenbomber vor der Invasion mit
Bodentruppen die urbanen Zentren in Grund und Boden bombardieren
werden, auch wenn die "Kollateralschäden" nicht
zu beziffern sind, darauf wird man sich verlassen dürfen.
Es wird eine militärische Exekution, die wahrscheinlich noch
vernichtender für den Irak sein und noch mehr Opfer kosten
wird als die erste von 1991.
Öl
ist ein ganz besonderer Saft
Nicht ob
der Irak eine Bedrohung für Amerika und die Internationale
Gemeinschaft darstellt, ist die Frage, um die es in Wirklichkeit
geht, sondern warum Präsident Bush und die hinter ihm stehende
Fraktion des Corporate America diesen Krieg unbedingt wollen und
ihn gerade jetzt brauchen.
Der primäre
Grund liegt auf der Hand: Durch die verheerenden Terroranschläge
vom 11. September ist in den USA und der westlichen Welt ein allgemeines
Klima der Bedrohung entstanden, das nicht nur jede gebotene Abwehrmaßnahme
gegen die internationalen terroristischen Netzwerke, sondern,
aus Sicht des Weißen Hauses, auch militärische Präventivschläge
gegen sog. "Schurken- und Unterstützerstaaten"
zu legitimieren scheint. Auch wenn es den US-Geheimdiensten nicht
gelungen ist, einen operativen Zusammenhang zwischen dem Irak
und dem Al-Qaida-Netzwerk nachzuweisen, die allgemeine Bedrohungshysterie
verschafft den Bush-Kriegern jetzt die unwiederbringliche Gelegenheit,
die uralten Pläne zur Eroberung der nach Saudi-Arabien weltweit
größten Ölvorkommen endlich in die Tat umzusetzen.
Nur ein Regimewechsel in Bagdad wird ihnen die definitive Kontrolle
über die irakische Ölindustrie verschaffen und damit
das Öl, an dem die US-Wirtschaft hängt wie der Süchtige
an der Nadel, entscheidend verbilligen. Wie jüngst der Politikwissenschaftler
Mohssen Massarrat vorgerechnet hat, dürfte die jährliche
Ersparnis der US-Wirtschaft bei ca. 150 Milliarden Dollar pro
anno liegen: " Die Wahrscheinlichkeit einer Ölpreissenkung
auf 15 Dollar/Barrel wie nach dem Golfkrieg von 1991 ist sehr
hoch - die geschätzten Kriegskosten von ca. 200 Mrd. Dollar
würden dadurch in Kürze amortisiert."
Durch das
billige Öl - und koste es auch noch so viele Barrel irakisches
Blut - und durch die vollen Auftragsbücher der US-Rüstungsfirmen,
die schon heute Präsident Bush und sein 380 Mrd. Dollar Aufrüstungsprogramm
segnen, dürfte die kränkelnde US-Konjunktur endlich
wieder in Fahrt kommen. Der Krieg ist eben nicht nur der "Vater
aller Dinge", er ist auch die Mutter der Konjunktur.
Die Seidenstraßenstrategie
Doch geht
es den USA nicht nur um die Kontrolle und den Zugriff auf die
irakischen Ölressourcen, es geht ihnen um die Gewinnung der
strategischen Vorherrschaft in einer riesigen geografischen Region,
die sich vom Mittelmeer bis nach Zentralasien erstreckt. Am 19.
März 1999, also fünf Tage vor dem Beginn der Bombardierung
Jugoslawiens, verabschiedete der US-Kongress das so genannte Seidenstraßen-Strategie-Gesetz
(Silk Road Streategy Act). Es umreißt den Ausbau des amerikanischen
Wirtschaftsimperiums in einem breiten geografischen Korridor,
der bis vor kurzem zur wirtschaftlichen und geopolitischen Sphäre
Moskaus gehörte. Ich zitiere aus dem Bericht des US- Kongresses:
"...
der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ein neues Machtspiel in
Gang gesetzt, bei dem an die Stelle der Interessen der Ostindischen
Kompanie jene von Ölgesellschaften wie Unocal, Total und
vielen anderen Unternehmen getreten sind. Heute liegt unser Augenmerk
auf den Interessen eines neuen Mitstreiters in diesem Spiel: den
USA. Die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken, aus denen Zentralasien
besteht - Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und
Usbekistan -, sind begierig darauf, Beziehungen zu den USA aufzubauen.
Kasachstan und Turkmenistan besitzen große Öl- und
Gasreserven rund um das Kaspische Meer, die sie dringend ausbeuten
wollen. Usbekistan hat Öl- und Gasvorkommen ... ."
Auch die
militärische Vergeltungsaktion gegen die Taliban, die mit
Hilfe der NATO-Verbündeten vollstreckt wurde, stand im Dienste
der geostrategischen US-Interessen.
Mit der Errichtung
von Militärbasen in Afghanistan und Usbekistan haben die
USA jetzt auch Zentralasien fest im Griff - und damit die strategisch
bedeutsamen, kosten-günstigsten und sichersten Routen für
die Erdöl- und Erdgasleitungen, die vom Kaspischen zum Arabischen
Meer führen werden. Mit ihrer Seidenstraßenstrategie
zielt die US-Politik darauf, ihre Wettbewerber im Ölgeschäft,
darunter Russland, den Iran und China, zu schwächen und schließlich
zu destabilisieren. Das wird im US-Kongressbericht auch ganz offen
zugegeben:
"Zu
den erklärten Zielen der US-Politik im Hinblick auf die Energieressourcen
in dieser Region gehört es, (... )Russlands Monopol über
die Öl- und Gastransportrouten zu brechen (...), den Bau
von Ost-West-Pipelines zu ermutigen, die nicht durch den Iran
verlaufen, sowie zu verhindern, dass der Iran gefährlichen
Einfluss auf die Wirtschaften Zentralasiens gewinnt (...)."
Gestützt
durch die Militärmacht der USA und das Militärbündnis
GUUAM, soll der Silk Road Strategy Act US-Firmen und Finanzinstituten
eine riesige geografische Region öffnen. Der erklärte
Zweck besteht darin, in einer Region, die sich vom Schwarzen Meer
bis an die chinesische Grenze erstreckt, eine von den USA kontrollierte
"Freihandelszone" aus acht ehemaligen Sowjetrepubliken
zu errichten. Dieser ausgedehnte Korridor würde schließlich
die gesamte Region rund um die alte Seidenstraße in einen
Flickenteppich amerikanischer Protektorate verwandeln. Dass vor
allem die alte, ökonomisch geschwächte Kolonialmacht
Großbritannien bei dieser Neuauflage des einstigen "Great
Game" im eurasischen Wirtschaftsraum Morgenluft wittert und
mit von der Partie sein will, versteht sich von selbst und erklärt
wohl zur Genüge die emphatisch gepflegte Waffenbrüderschaft
Tony Blairs mit Präsident Bush - auch in der Irakfrage.
Die gebeutelte
und gespaltene Nation
Doch es
sind nicht nur die geostrategischen Interessen und versteckten
Kriegsziele der USA, sondern auch innenpolitische Gründe,
die den erklärten, zeitlich und räumlich unbefristeten
"Kreuzzug gegen die Schurkenstaaten" und die "Achse
des Bösen", aus der Sicht der herrschenden US-Eliten
notwendig machen. Der erste Grund betrifft den eigenen Machterhalt.
Der US-Präsident, der sein politisches Image an das Versprechen
geknüpft hat, den irakischen Diktator zu entwaffnen und aus
dem Amt zu jagen, würde im Falle einer diplomatisch-friedlichen
Lösung des Irak-Konflikts sein Gesicht verlieren und damit
seine eigene Wiederwahl gefährden.
Darüber
hinaus geht es um den gefährdeten Zusammenhalt einer Nation,
die noch nie so zerrissen, sozial und ethnisch so tief gespalten
war wie heute. Der Krieg war schon immer, besonders in Zeiten
wirtschaftlicher Krisen und sozialer Verwerfungen, ein genialer
Demiurg und teuflischer Ablenkungskünstler, der innere (nationale)
Einheit vorgaukelt, indem er den Zwiespalt, die Gewalt und Zerstörung
nach außen trägt.
Werfen wir
einen kurzen Blick auf den inneren Zustand der heutigen US-Gesellschaft.
Infolge der neoliberalen Rosskur, der das ganze Land schon während
der Reagan-Ära unterworfen wurde und die sich in der Clinton-Ära
ungehemmt fortsetzte, haben sich die sozialen Gegensätze
weiter vertieft. Zwar konnte die angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit
der US-Wirtschaft sprunghaft verbessert und die offizielle Arbeitslosenrate
gesenkt werden, dafür aber bescherte der forcierte Wettbewerb
mehr als der Hälfte der Bevölkerung den neuen amerikanischen
Albtraum: Abstieg ohne Ende. Die durchschnittlichen Bruttolöhne
für fast drei Viertel der Arbeitsbevölkerung fielen
schon in der Clinton-Ära um 19 Prozent - auf nur noch 258
Dollar pro Woche. Für das untere Drittel der Einkommenspyramide
fiel der Lohnschwund noch dramatischer aus: es erhielt sogar 25
Prozent weniger Lohn als vor zwanzig Jahren. Auf der untersten
Sprosse aber stehen die schwarzen Amerikaner: ihr Durchschnittseinkommen
ist heute 61 Prozent niedriger als das der weißen Amerikaner.
Dieses prozentuale Gefälle gab es schon mal in der amerikanischen
Geschichte: im Jahr 1880.
Golden waren
die 90er Jahre des amerikanischen Booms nur für die Reichen
und einen Teil der Mittelklasse, kam doch aller Zuwachs an Vermögen
und Einkommen nur dem oberen Fünftel, etwa 2O Millionen Haushalten
zugute. Etwa eine halbe Million Superreiche besitzen heute ein
Drittel des gesamten privaten Vermögens in den USA. Noch
nie in ihrer ganzen Geschichte war die Kluft zwischen Arm und
Reich so groß, die soziale Ungleichheit so krass, so himmelschreiend
wie heute.
Nach dem
Börsenflug der New Economy setzte bekanntlich der Abschwung
an den inter-nationalen Börsen ein, der längste seit
dem Crash von 1928. Seither haben Tausende von Start-up-Unternehmen
im neuen Hightech- und Dot.com-Bereich Pleite gemacht. Im Unterschied
zu früheren Krisen hat die jetzige jedoch auch den amerikanischen
Mittelstand kalt erwischt. Noch nie gab es so viele Insolvenzen
mittlerer und großer Unternehmen und eine so hohe Wirtschaftskriminalität
wie in den letzten Jahren. Ehemalige Flaggschiffe der US-Wirtschaft
wie Enron, Worldcom und andere sind durch das Finanzraubrittertum
ihrer Vorstände und führenden Manager, durch skrupellose
Bilanzfälschungen und gnadenlose Selbstbedienung, in den
Konkurs getrieben worden. Die Folgen haben die Heerscharen der
entlassenen Mitarbeiter zu tragen, die ihre private Alterssicherung
meist über Unternehmensaktien und Pensionsfonds gedeckt hatten.
Jetzt stehen Millionen von ehemaligen Middle-class-Amerikanern
mit leeren Händen da und schauen verbittert und verängstigt
in die Zukunft.
Der aggressive
Neoliberalismus amerikanischer Machart hat nicht nur Millionen
Menschen der eigenen Bevölkerung in die Verarmung getrieben,
er hat auch zu einer Verunsicherung sämtlicher Lebensbereiche
- vor allem bei Arbeit, Krankheits- und Altersvorsorge geführt.
Vierzig Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung und
kommen nur über die Runden, wenn sie zwei oder drei unterbezahlten
Jobs nachgehen und 60 bis 70 Stunden die Woche arbeiten. Das Wort
"Urlaub", bezahlten gar, kennen sie nicht.
Der Preis
des brutalen Sozialabbaus, der Lohndrückerei und der Privatisierung
sämtlicher Lebensrisiken ist der fortschreitenden Zerfall
der US-Gesellschaft. Die Kriminalitätsrate liefert dazu ein
beredtes Zeugnis. Im Schnitt werden über 10 000 Menschen,
also etwa das Vierfache der Opfer, die unter dem WTC begraben
liegen, jährlich durch Schusswaffen getötet. Somit ist
die Wahrscheinlichkeit, durch Mord sein Leben zu verlieren, in
den USA zehn Mal größer als in den Staaten Europas.
Allein in Los Angeles wurden im letzten Jahr 650 Morde registriert.
Für die Hälfte der Morde sind 200 rivalisierende Banden
verantwortlich, deren Mitgliederzahl auf über 100 000 geschätzt
werden. Im Bundesstaat Kalifornien übersteigen die Ausgaben
für die Gefängnisse denn auch den gesamten Bildungsetat.
Ca. 28 Millionen Amerikaner, mehr als 1O Prozent der Bevölkerung,
haben sich in bewachten Hochhäusern und Siedlungen verschanzt
und geben Unsummen für private Sicherheitsdienste aus. Mit
einem Wort: Die Nation ist nach brasilianischem Vorbild gespalten.
Der Neoliberalismus
hat im ganzen Lande ein Klima geschaffen, das vom sozialdarwinistischen
"struggle for life", für Amerikaner wohl zutreffender
vom "struggle for the richest", beherrscht ist. Dieser
Neoliberalismus ist selbst eine Ideologie und Praxis des Krieges.
Denn wenn das "Gesetz des freien Marktes" zum Naturzustand
verklärt wird, dann soll sich die Gesellschaft, ganz im hobbesschen
Sinne des Begriffs, in den wirtschaftlichen Überlebenskampf,
den "Krieg aller gegen alle", stürzen. Wo aber
das tägliche Leben zum Kampfplatz, zu einer war-zone wird,
wo Symbole, Metaphern und Bilder des Krieges die gesamte Alltagswelt,
die Wirtschaft, die Börse, den Sport, die Nachrichten, die
Unterhaltungsindustrie und die Massenkultur durchdringen, da erscheint
auch der wirkliche Krieg als unausweichliche Naturnotwendigkeit.
Die amerikanische
Paranoia und der Kultus der Gewalt
In seinem
Sachbuch-Bestseller "Stupide White Men" beschreibt Michael
Moore u.a. den rasanten Verfall des Public-School-Systems in den
USA und seine Auswirkungen: "Sage und schreibe 44 Millionen
Amerikaner sind nicht imstande, Texte zu lesen und zu schreiben,
die auf dem Niveau der vierten Schulklasse liegen - mit anderen
Worten, sie sind faktisch Analphabeten." Der Durchschnittsamerikaner
verbringt 99 Stunden im Jahr mit dem Lesen von Büchern und
im Vergleich dazu 1460 Stunden vor dem Fernseher. Nur elf Prozent
der Amerikaner machen sich die Mühe, eine Tageszeitung zu
lesen.
Dass eine
Bevölkerung, die ihre Informationen und ihr Bild von der
Welt außerhalb Amerikas fast nur noch über das Fernsehen
gewinnt, beliebig manipuliert und indoktriniert werden kann und
damit zum Spielball der Ängste und Bedrohungen wird, die
von den US-Medien ständig geschürt werden, liegt auf
der Hand. In seiner 1999 erschienenen Studie "The Culture
of Fear" hat der US-Soziologe Barry Glasner jene "Kultur
der Angst" diagnostiziert, die er die "amerikanische
Paranoia" nennt. Seine gut belegte These: In den USA profitieren
bestimmte Gruppen - Journalisten, Politiker, Medien, Konzerne
- von den Ängsten der Bevölkerung und schüren sie
daher mit allen Mitteln. Achtung! Killerbienen aus Afrika, die
über Südamerika in die USA vordringen! Achtung! Tödliche
Rasierklingen, die in Halloween-Äpfeln versteckt sind! Achtung!
Gefährliche Schlankheitspillen! Gefährliche Rolltreppen!
Und natürlich lauern überall gefährliche Afroamerikaner.
Die Welt in den US-Medien beschreibt Glasner als Horrorkabinett.
Vor allem das Reality-TV bläst Nachrichten über Gewalttaten,
Morde, Verbrechen, tödliche Unfälle etc. überproportional
auf und sensationalisiert sie. Damit wird eine Atmosphäre
geschaffen, in der jeder Angst hat, von einem anderen angegriffen
zu werden. Ob das der Afroamerikaner von nebenan oder die Taliban
in Afghanistan sind - überall lauert ein schwarzer Mann,
der einem an den Kragen will. Die Amerikaner wähnen sich
umstellt von Gefahren.
Aus der "amerikanischen
Paranoia" speist sich auch jene "Kultur der Gewalt",
die alle Poren der US-Gesellschaft durchdringt, und sie mit immer
neuen Bedrohungsgefühlen und virulenten Energien auflädt.
Michael Moores dokumentarische Filmcollage Bowling for Columbine
wirft ein schockierendes Licht auf den amerikanischen Gewalt-
und Waffenfetischismus. Der Film kulminiert in den Videoaufzeichnungen
vom Massaker an der Columbine High School in Littleton, bei dem
im April 1999 zwei Schüler mit halbautomatischen Gewehren
zwölf Mitschüler, einen Lehrer und dann sich selbst
erschossen. Das Schulmassaker fand just an dem Tage statt, an
dem über Jugoslawien die größte Bombenfracht des
NATO-Krieges abgeworfen wurde. Michael Moore geht der Frage nach,
woher diese Kultur der Gewalt kommt. Eine seiner Antworten im
ZEIT-Interview vom 30.12.02: "Selbstverständlich gibt
es zwischen der amerikanischen Außenpolitik und einem Individuum,
das irgendwo in der amerikanischen Provinz durchknallt, keinen
kausalen Zusammenhang. Aber ein Staat, der eine Vielzahl seiner
außenpolitischen Interessen mit Gewalt durchsetzt, verändert
damit auch sein inneres Klima. Er gibt aggressive Muster vor,
die bei einem jungen Menschen Hemmschwellen herabsetzen (...).
Ich sage auch nicht, dass Armut der einzige Faktor ist. Aber zusammen
mit Millionen Handfeuerwaffen und einer Regierung, die die Paranoia
ihrer Bürger ständig schürt, ist dies eine sehr
beunruhigende Situation".
Der 11. September
hat die phantasmatischen Ängste und Bedrohungsgefühle
der Amerikaner noch potenziert. Denn plötzlich war die Bedrohung
real, der Krieg kehrte nach langer Zeit wirklich zu ihnen zurück.
Wenn sich nun aber die "amerikanische Paranoia" und
das kollektive Trauma des 11. September zusätzlich mit realen
Existenzängsten verbinden, vor allem mit den sozialen Abstiegsängsten
der deklassierten (oder von Deklassierung bedrohten) US-Mittelklasse,
dann kann daraus ein gefährliches und explosives Gemisch
entstehen. Denn je gefährdeter die eigene Existenzgrundlage
wird - dies kennen wir aus den Zeiten der Weimarer Republik -,
desto größer wird auch die Neigung zur projektiven
Abwehr dieser Ängste, zur Radikalisierung und moralischen
Aufrüstung über eine aggressive Ideologie. Als ideale
Sündenböcke und Innenfeinde eignen sich nach den Terroranschlägen
vor allem die in Amerika lebenden Muslime, auf welche die Hatz
längst begonnen hat.
Doch die
wirksamste Kanalisierung der sozialen Existenz- und Abstiegsängste,
der kollektiven Bedrohungsgefühle und Aggressionen, die sich
ja auch leicht gegen die Herrschenden richten können - siehe
der Aufstand von Seattle gegen die WTO-Gewaltigen -, war und ist
noch immer ein gemeinsamer Außenfeind, der die ganze Nation
bedroht und den man zur Strecke bringen muss, um endlich Sicherheit
zu gewinnen. In einer sozial und ethnisch so tief gespaltenen
Gesellschaft wie der amerikanischen hat der kriegerische Patriotismus
in Verbindung mit einem aggressiven Feindbild, das über lange
Zeit der "Kommunismus" war, schon immer eine die Nation
integrierende und stabilisierende Funktion gehabt. Erst recht
nach dem 11. September. Der "Krieg gegen den Terror"
und gegen erklärte "Schurkenstaaten" befriedet,
wenn auch nur zum Schein, die schroffen inneramerikanischen Gegensätze,
indem er alle Kräfte der Nation auf den äußeren
Feind lenkt. Der Patriotismus und die Mobilisierung für den
Krieg vereinen den unterbezahlten Schichtarbeiter wieder mit dem
US-Millionär, den schwarzen Schuhputzer mit dem weißen
Wallstreet-Broker, den Obdachlosen aus der Bronx mit dem Penthouse-Bewohner
der Fifth-Avenue. Sind wir nicht alle Amerikaner und gehören
zur "großartigsten Nation der Welt" (O-Ton Bush),
die jetzt gemeinsam aufsteht und wehrhaft zurückschlägt?
Das Trauma vom 11. September, in Verbindung mit der "amerikanischen
Paranoia" und den sozialen Abstiegsängsten breiter Bevölkerungsschichten,
kann sehr wohl den Nährboden für eine neue fundamentalistische
Massenbewegung bilden, die mit Begeisterung für die "amerikanischen
Werte" in den Krieg zieht, zumal der Glaube an "gods
own country", an das auserwählte amerikanische Volk
und seine "Mission" zum - bis heute ungebrochenen -
Selbstverständnis der US-Eliten und vieler christlicher (Missions)Gemeinschaften
gehört, die jetzt wieder große Zuschüsse aus Bundesmitteln
erhalten.
Wir haben
also allen Grund, uns vor diesem Amerika zu fürchten.
Der Mehltau
des Totalitären
Schon seit
geraumer Zeit ist Amerika nicht mehr jenes Land von freedom and
democracy, als das es sich seinen Verbündeten und der Welt
so gerne präsentiert. Längst sind die großen US-Medien
auf den Kurs der Regierung eingeschwenkt, d.h. faktisch gleichgeschaltet.
Regierungskritische Beiträge und Sendungen werden als "unpatriotisch"
angesehen und fallen der (Selbst)Zensur zum Opfer. Eine nennenswerte
politische Opposition innerhalb des politischen Systems gibt es
nicht mehr. Mit ihren diversen Antiterror-Gesetz-Paketen, dem
- auch von den Demokraten bejubelten - "Patriot Act",
hat die Bush-Administration nicht nur Einschränkungen elementarer
Bürger- und Freiheitsrechte verfügt, von denen ein Mc
Carthy nur hätte träumen können, sie hat auch ein
gefährliches Klima der Denunziation und Bespitzelung geschaffen.
Unter Justizminister John Ashcroft ist ein umfassendes nichtpolizeiliches
Beobachtungs- und Tippgebersystem von Freizeitsheriffs entstanden,
das aus Briefträgern, Bus- und Fernfahrern, öffentlichen
Bediensteten, ehrenamtlichen Wachmännern und -frauen besteht
und das nahezu alles überwacht: die eigene Nachbarschaft,
öffentliche Plätze, Parks, Discos, Bibliotheken, Brücken,
Autobahnen, etc, vor allem aber den Campus und die muslimischen
Viertel. An amerikanischen Universitäten kursieren bereits
Listen "unpatriotischer Professoren", und die Studierenden
werden aufgefordert, deren Veranstaltungen und Vorlesungen zu
boykottieren.
Gravierende
Verstöße gegen fundamentale Rechtsgrundsätze der
amerikanischen Verfassung und des internationalen Völkerrechts
sind in Bushs Amerika inzwischen an der Tagesordnung. Man weiß,
unter welch menschenunwürdigen Haftbedingungen die gefangenen
Gotteskrieger auf Guantanamo gehalten werden, denen der Rechtsstatus
von Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention von vornherein
abgesprochen wurde. Ganz offen wird in den amerikanischen Medien
über die Einführung der Folter bei Vernehmungen diskutiert.
Derzeit sitzen mehr als 2000 muslimische und nicht muslimische
"Verdächtige", die keinerlei Rechtsschutz mehr
genießen, in US-Gefängnissen. Viele wurden ohne richterliches
Verfahren verhaftet, durften keinen Kontakt zu ihren Familien
aufnehmen und werden oftmals mit Methoden verhört, die an
Folter grenzen, wie die Internationale Liga für Menschenrechte
und Human Rights berichtet. Besorgt äußert sich die
Liga auch darüber, dass die CIA wieder Morde im Ausland organisieren
darf (was seit Anfang der siebziger Jahre verboten war). Eben
erst hat die Bush-Regierung die "Todesliste" der zum
Abschuss freigegebenen "Top-Terroristen" offiziell herausgegeben.
Mit anderen
Worten: Auch Amerikas große liberale Tradition steht jetzt
auf dem Spiel! Und wenn das andere und anständige Amerika,
das Amerika der großen Bürgerrechtsbewegungen, die
in den 50er und 60er Jahren fundamentale Rechte für die Schwarzen
und Juden erkämpft haben, das Amerika der Pazifisten und
Kriegsgegner, die 1975 das Ende des Vietnam-Krieges erzwungen
haben, sich nicht gegen diese Entwicklung stemmt, kann es sich
schon bald in einem militaristischen Überwachungsstaat wiederfinden.
Denn längst liegt der Mehltau des Totalitären über
den Vereinigten Staaten.
Appeasement
oder Aufstehen für den Frieden
"Der
geplante Krieg gegen den Irak", sagte der britische Dramatiker
Harald Pinter kürzlich in einer Rede an der Universität
Turin, "ist nichts anderes als ein rücksichtslos einkalkulierter
Massenmord an Zivilisten, um sie, wie es immer wieder heißt,
von ihrem Diktator zu befreien. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien
verfolgen einen Kurs, der zu einer Eskalation der Gewalt in der
ganzen Welt und letztlich in der Katastrophe enden wird. (...)
Viele Amerikaner sind, wie wir wissen, erschrocken von der Haltung
ihrer Regierung, aber eben auch hilflos. So bleibt nur die Hoffnung
Europa. Wenn allerdings Europa seine Solidarität, seine Intelligenz
und seinen Mut nicht wiederfindet, um sich den USA zu widersetzen,
dann fällt auch Europa unter die Definition von Alexander
Herzen: Wir sind nicht die Ärzte. Wir sind die Krankheit.'"
Dieser Befund
ließe sich durch eine historische Parallele aus der jüngsten
Geschichte noch präzisieren. Da ich als Autor und noch freier
Publizist kein Amt und kein Ministerportefeuille zu verlieren
habe, werde ich auch nicht in die Lage kommen, das Folgende dementieren
zu müssen - wie jüngst eine zurückgetretene Justizministerin,
die behauptet hatte, Bush wollte mit seinem Irak-Krieg nur von
innenpolitischen Problemen ablenken - eine Methode, deren sich
auch Adolf Hitler bedient habe. Nun muss es aber gerade für
uns Deutsche erlaubt sein, im Sinne von Adornos "Erziehung
nach Auschwitz" mahnend und ohne Tabus auf gefährliche
politische Entwicklung hinzuweisen. Bedrohlich erscheinen unter
diesem Aspekt das manichäisch-mittelalterliche Weltbild des
US-Präsidenten ("Kampf des Guten gegen das Reich des
Bösen"), seine totalitäre Rhetorik ("Wenn
Ihr nicht mit uns seid, dann seid Ihr gegen uns!"), vor allem
aber die neue Bush-Doktrin vom uneingeschränkten Recht Amerikas,
gegen Staaten, die eine Bedrohung für die Sicherheit der
USA darstellen, auch Präventivkriege zu führen.
Diese für
die ganze Menschheit gefährliche Selbstermächtigung
und Hybris der einzigen Supermacht erinnert allerdings fatal an
die Präventivkriegsstrategie des "Dritten Reiches"
und die europäische Appeasement-Politik von 1938. Seinerzeit,
beim Münchner Abkommen 1938, haben Frankreich und Großbritannien,
vertreten durch Daladier und Chamberlain, die Tschechoslowakei
auf dem Altar ihrer Appeasement-Politik geopfert. Die Folgen sind
bekannt. Heute laufen die europäischen Regierungen Gefahr,
entgegen dem Votum ihrer Wählerschaft, die in ihrer überwältigenden
Mehrheit einen US-Angriffskrieg gegen den Irak ablehnt, das geschundene
Volk an Euphrat und Tigris auf dem Altar einer falsch verstandenen
Bündnis- und Vasallentreue aufzuopfern. Wenn sie aber den
geplanten Völkermord im Irak billigend oder stillschweigend
in Kauf nehmen, etwa durch ein "Ja" zu einer möglichen
Kriegsresolution im Weltsicherheitsrat, werden sie zu fahrlässigen
Duldern und Helfershelfern einer Supermacht, die sich zur Durchsetzung
ihrer versteckten Kriegsziele und ihrer globalen Hegemonialpolitik
in noch nie da gewesener Weise hochgerüstet hat und mit dem
geplanten militärischen Vorgehen gegen den Irak einen Präzedenzfall
für das Funktionieren ihrer neuen Weltordnung zu schaffen
versucht. Wenn Europa und der "Rest der Welt" sich ihnen
jetzt nicht widersetzen, werden die USA jeden "Schurkenstaat",
den sie dafür halten und dazu erklären, in Zukunft präventiv
bekriegen und ihren räumlich und zeitlich unbegrenzten Krieg
bis zum bitteren Ende führen.
Europa steht
an einem historischen Scheideweg. Entweder steht es jetzt "für
den Frieden auf" und praktiziert den zivilen Ungehorsam,
wie es die deutschen Bischöfe, die Gewerkschaften, die Friedensbewegung,
die internationalen Menschenrechtsgruppen und globalisierungskritischen
Netzwerke sowie zahllose besorgte Bürger gefordert haben
- oder es macht sich mitschuldig an einem neuen Völkermord.
Die Folge wird eine Destabilisierung und Radikalisierung der arabischen
Welt sein, die Folge werden neue Terrorattacken sein, die zu neuen
staatsterroristischen Gegenattacken führen. Die Eskalation
der Gewalt ist vorprogrammiert, was à la longue sehr wohl
in den viel beschworenen "Clash of Civilisations", in
den neuen Weltenbrand, einmünden kann. Entweder nimmt Europa
jetzt seine historische Rolle und Verantwortung als Mittler zwischen
Okzident und Orient wahr, indem es einer hybriden und kriegslüsternen
Weltmacht seine - aus der leidvollen Erfahrung zweier Weltkriege
gewonnene - Kultur friedlicher Konfliktlösung entgegenhält,
oder es wird auf absehbare Zeit auf der US-dominierten Weltbühne
nur noch einen subalternen Status innehaben wie einst die Vasallenstaaten
des römischen Imperiums. Denn so viel ist sicher: Unter der
Führung des derzeitigen US-Präsidenten, eines "christlichen
Fundamentalisten", und der aggressivsten Fraktion des Corporate
America, die alle Hebel der Macht in Händen halten, wird
der "Kreuzzug" gegen die beliebig verlängerbare
"Achse des Bösen" auch nach einem "siegreichen"
Irak-Krieg noch lange nicht beendet sein.
Wie sagte
doch ein berühmter lateinischer Dichter im Exil über
das kriegerische Rom, dessen Agonie schon begonnen hatte: "Der
Krieg gleicht einem Quacksalber, der die Krankheit, die er zu
heilen vorgibt, nur verschlimmert. Er ist ein Verbrecher nicht
nur, weil er das Blut so vieler unschuldiger Menschen vergießt,
sondern auch, weil er die Dummheit an der Macht hält. Grenzenlos
ist die Dummheit der Sieger, denn sie merken nicht einmal, dass
ihr Sieg den Grund zu neuen Kriegen und Katastrophen legt."
Michael
Schneider ist Essayist und Romancier. Er lehrt als Professor für
Drehbuch an der Filmakademie Baden-Württemberg, ist Mitglied
des deutschen PEN-Zentrums und des akademischen Beirates von attac-Deutschland.
Seine große Studie "Das Ende eines Jahrhundertmythos"
bilanzierte die historische Fehlentwicklung und den Konkurs des
Staatssozialismus. Sein jüngster historischer Roman, "Der
Traum der Vernunft/ Roman eines deutschen Jakobiners", stand
im Juni 2001 auf der SWR-Bestenliste.