die wiedergutmachung
"Gestern
vor dem Schlafengehen habe ich meine Milch ausgetrunken, die ich
als Kind im Zorn verschüttete. Ich habe sie aus der Tasse
mit dem Blumenmuster getrunken und als ich sie leertrank, sah
ich auf dem feuchtglänzenden Grund die große rote Rose,
genau wie meine Großmutter mir immer versprach. Nur daß
ich damals nie ausgetrunken und zuletzt die Tasse zerbrochen hatte.
Diesmal aber würde meine Großmutter mit mir zufrieden
sein, das wußte ich.
Aber jetzt,
seit ich ausgetrunken und den Grund gesehen habe, gibt es viel
zu tun.
Eine Menge ist nachzuholen und manches ungeschehen zu machen.
Seit Tante Ernas Tod war ich immer ein wenig traurig, weil ich
mich das letzte Mal, als ich sie sah, vorlaut benommen hatte.
Aber heute morgen habe ich sie besucht und mich bei ihr entschuldigt,
und sie war wieder gut und hat mir ein Seidenbonbon gegeben, wie
immer.
Auch meinen
Freund Hans, den ich zuletzt vernachlässigt hatte, weil ich
immerzu mit meinen eigenen Problemen beschäftigt war, habe
ich angerufen, in seiner früheren Wohnung. Ich habe ihm gut
zugeredet und ihm gestanden, daß ich dieselben Zweifel hege
wie er. Das sind auch schon fast zwanzig Jahre, aber morgen in
der Mittagspause treffen wir uns. Er hat gelacht und gesagt, er
wird sich nie wieder etwas antun.
Noch ist
vieles in Ordnung zu bringen. Mit Irene und mit meiner ersten
Frau, und - wenn ich mich dazu aufraffen und die unkrautüberwucherte
Stelle tatsächlich ausfindig machen kann - sogar mit meinem
Vater. Aber wenigstens geht es jetzt doch wieder vorwärts!
Das Bereinigen dieser alten Geschichten lohnt sich. Menschen aufzusuchen
und die alten Mißhelligkeiten aus der Welt zu schaffen,
indem man sich mit ihnen einfach ausspricht, offen, wie man zu
Angehörigen und alten Freunden nun einmal sprechen soll,
ist nie vergeudete Zeit. Ich fühle mich von Stunde zu Stunde
freier und glücklicher und das Leben ist auf einmal wieder
aussichtsreich und voll von Möglichkeiten."
Erich Fried, Kinder und Narren, 1965