Gabriele Gillen
Der Preis der Lüge - oder: Die Schatten der Geschichte
Ein Essay für WDR 5
Sendedatum: 14. September 2001
Redaktion: Rainer Marquardt
Beginnen wir mit einem einfachen Gedanken: Ein Verbrechen gegen ein
menschliches Wesen steht einem anderen Verbrechen gegen ein menschliches
Wesen in nichts nach. Ein Mensch ist so viel wert wie ein anderer.
Denn: „Alle Menschen sind gleich geschaffen“, so steht es auch in der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Vereinten
Nationen beginnen ihre „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die
nun schon älter als 50 Jahre ist, mit der feierlichen Formulierung
von der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie
innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“
- eine Anerkennung, die die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und
Frieden bilde. Schauen wir uns um auf der Welt:
Nein, die Menschen sind nicht gleich. Gleich geboren, aber nicht gleich
ernährt; gleichermaßen würdig, aber nicht gleichermaßen beschützt;
gleichberechtigt, aber nicht gleich behandelt.... Wer hungert, wird
eben nicht satt. Wer zwischen Folterkellern lebt, lebt in der täglichen
Angst um seine Haut. Wer verfolgt wird, kann sich kein Wohnzimmer einrichten.
Wer keine Macht hat, ist ohnmächtig. Und wer sich verachtet fühlt,
lernt den Hass.
Alle Menschen sind gleich. Aber erleben wir ein Massaker an Afrikanern
oder Arabern als die gleiche Katastrophe wie ein Massaker an Europäern
oder US-Amerikanern? Ist es nicht so, dass wir dort in Afrika oder
im Nahen Osten den rohen Umgang miteinander beinah für normal halten?
Doch würden wir es verstehen, wenn ein Afrikaner oder ein Palästinenser
ein Blutbad in Europa oder in den USA schlicht für das selbstverständliche
Produkt einer Zivilisation hielte, die Auschwitz oder Hiroshima hervorgebracht
hat?
Der Umfang und die Heftigkeit der Anschläge gegen die USA mögen überraschend
gewesen sein, doch überrascht es auch, dass die USA in diesen Zeiten
das Opfer von gewalttätigen Attacken wird? Muss es uns wundern, dass
in den durch Kriege und Armut und Umweltzerstörung verwüsteten Teilen
der Erde nach einfachen Lösungen gerufen wird, nach Rache? Wollen wir
nicht begreifen, dass der Terror nicht nur eine bösartige, sondern
auch eine verzweifelte Antwort auf die Aufteilung der Welt in Arm und
Reich, in Sklaven und Herrscher ist?
Alle Menschen sind gleich. Doch die Geschichte der Eroberung Amerikas
ist bis heute eine lange blutige Geschichte über die Missachtung von
Menschenrechten und den Missbrauch von Macht: Die Ausrottung der Indianer,
die Unterdrückung der Schwarzen, Hiroshima und Vietnam, Chile und der
Nahe Osten, die Verweigerung von Schuldenerlassen oder Umweltauflagen.
Überall auf der Welt leben Menschen in einer Situation der permanenten
Demütigung und des ökonomischen Desasters. Und überall mischen die
USA mit - selbstlegitimiert durch die vermeintliche Verteidigung der
Freiheit, aber in Wahrheit immer auf der Seite des Geldes und besessen
von der Durchsetzung des eigenen Werte- und Wirtschaftssystems. Die
Verbrechen der Macht stehen in nichts den Verbrechen der Ohnmacht nach.
Worum weinen wir in diesen Tagen? Für wen oder was legen wir Gedenkminuten
ein, feiern wir Trauergottesdienste, sagen wir Gartenpartys, Sportveranstaltungen
und Haushaltsdebatten ab? Warum unterbrechen wir Wahlkämpfe und warum
legen wir gedämpfte Musik auf die Plattenteller der Rundfunkanstalten?
Trauen wir tatsächlich um die Toten in den USA? Doch wann haben wir
je in dieser Form auf die Bombardierungen von kurdischen Dörfern, auf
das Massensterben im hungernden Afrika, auf die Erschießung von palästinensischen
Kindern reagiert? Auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens,
auf das Gemetzel der Taliban in Afghanistan, auf die durch Selbstmordattentäter
zerfetzten Menschen in Jerusalem? Oder auf den Völkermord in Ruanda
1994, bei dem eine Million Frauen, Männer und Kinder ermordet wurden.
Die gerade jetzt so viel beschworene Menschenverachtung erleben wir
schließlich Tag für Tag.
Was erschüttert uns also so in diesen Tagen? Die Ahnung, dass die Spirale
aus Gewalt und Gegengewalt immer seltener vor den Türen der „Ersten
Welt“ halt machen wird? Das plötzliche Wissen um die Zerbrechlichkeit
unserer mit Beton und Konsum und Seifenopern von Elend und realer Verzweiflung
abgeschirmten Welt? Oder erschüttert uns vielleicht auch die Erkenntnis,
dass unsere sogenannte Zivilisation auf einer Lüge aufgebaut ist; dass
wir unsere Hände nicht länger in Unschuld waschen können; dass das
World Trade Center und das Pentagon nicht nur für Tausende von unschuldigen
Opfern, sondern auch für Tausende von Tätern stehen, die Kriege inszenieren,
Waffen verkaufen und Hungersnöte in Kauf nehmen, wenn es den Börsenkursen
dient? Die terroristischen Anschläge in den USA ein Menetekel, eine
Unheil kündende Prophezeiung?
Doch wem oder was sagt die mit Flammen und Rauchzeichen in den Himmel
geschriebene Geisterschrift dieses Mal ihren Untergang voraus? Der
letzten Großmacht USA oder der zügellosen Gewalt des Geldes? Was können
wir erkennen im globalen Nebel zu Beginn des 3. Jahrtausends?
Trotz der pausenlosen Wiederholung dieser Floskel in den vergangenen
Tagen - es stimmt nicht, dass sich die Welt durch den Zusammenbruch
des World Trade Centers verändert hat. Verändert hat sich die Silhouette
von New York. Ansonsten ist die Welt die gleiche geblieben. Überall
Probleme, für die niemand eine Lösung hat oder auch nur zu haben vorgibt.
Die selben Kriege, der selbe Hunger, die selbe Hoffnungslosigkeit...
Die dramatischen Anschläge in den USA verändern nichts, sie zeigen
nur, dass immer aufgefeiltere Waffensysteme im Besitz der Nato oder
anderer Staaten immer ausgefeiltere Terroraktionen bedingen. Die Kriegserklärung
gegen die USA hat eine Vorgeschichte. Denn Terroraktionen dieser Art
entstehen auf einem politischen, sozialen und ideologischen Nährboden,
in einem Klima aus Hass und Intoleranz und Rassismus. Wenn Bundeskanzler
Schröder nun von einer „Kriegserklärung an die gesamte zivilisierte
Welt“ spricht, schreibt er die Spaltung der Welt schon wieder fort.
Wer nicht zu uns gehört, ist also unzivilisiert.
Nein, die Welt hat sich nicht verändert. Sie ist leider genau so wie
zuvor. Meistens jedoch sterben die Menschen stiller und nicht so spektakulär.
Ich stehe, trotz aller Beschwörungen der Anständigen, nicht auf der
Seite von Amerika und ich empfinde die grausamen Terroranschläge auch
nicht als einen Anschlag auf mein moralisches Wertesystem. Ich halte
die USA nicht für eine Demokratie und ihre Regierung nicht für eine
Hüterin der Menschenrechte, nicht für moralisch legitimiert, moralische
Urteile zu fällen. Aber ich trauere um die Toten in New York und Washington
- so wie um die zivilen Opfer im Kosovo-Krieg oder die verbrannten
Flüchtlinge in deutschen Asylbewerberheimen...
Wenn wir aber in Deutschland die Musterschüler im symbolischen Trauern
mimen wollen, dann bin ich dafür, alle Sportveranstaltungen und Oktoberfeste
und Messe-Galas abzusagen bis zu jenem Tag, an dem es Gerechtigkeit
gibt auf der Welt. Und bis zur Einlösung der UNO-Erklärung zu den Menschenrechten
plädiere ich auch für die dauerhafte Unterbrechung von inhaltsleeren
Wahlkämpfen und für tägliche Gedenkminuten. Ohne Gerechtigkeit keine
Sicherheit. Nicht noch mehr Waffen, nicht noch mehr Sicherheits-Kontrollen,
nicht noch mehr Mauern gegen die Armut und das Fremde machen die Welt
und unser Leben sicherer, sondern sozialer und ökonomischer Ausgleich,
der entschiedene und demokratische Kampf gegen die Verwüstungen des
Kapitals, Toleranz und Kultur...
Auch wir hier in den Medien sind gefordert. Wir müssen die Täter und
die Zusammenhänge beim Namen nennen: Wer profitiert von Massenentlassungen
oder Hungersnöten, wer verweigert des Profites wegen welche Medikamente
für Afrika, wer hat die Albaner in Mazedonien eigentlich bewaffnet
- und wer die Gefolgsleute des Terroristen Bin Laden? Waren das nicht
die Deutschen und die USA? Wir müssen uns der Propaganda und der freiwilligen
Gedankengleichschaltung entziehen. Und schon jetzt unsere Stimmen gegen
einen drohenden Krieg erheben. Und dagegen, dass die USA gemeinsam
mit ihren Verbündeten hinter der Pose der Betroffenheit und auf der
Suche nach Schuldigen gegen jeden vorgehen, der berechtigt gegen die
politische Dominanz der USA kämpft.
Wie könnten wir besser der vielen Toten gedenken, der zahllosen Opfer
von sinnloser Gewalt und gezieltem Terror, als mit dem gemeinsamen
Bemühen darum, dass sich die Welt tatsächlich ändert?!
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